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„Mach die Augen zu!“
„Was?“ Rupert von Schleewitz blickte an der Galeriewand entlang. Selbst
wenn die Barockgemälde dort nicht jedem den Atem rauben mochten, war das
Anliegen seines Ex-Mitschülers Alban Posselt – gelinde gesagt – etwas
seltsam.
„Ich führe dich vor das Bild, du machst die Augen wieder auf und sagst
mir, was dir als erstes daran auffällt“, sagte Alban.
Rupert verspürte nicht die geringste Lust auf dergleichen. Es reichte
schon, dass er sich von Alban einen Besuch der Gemäldegalerie in Schloss
Sanssouci hatte dekretieren lassen. Das muss dich als Kunstliebhaber
doch interessieren, hatte Alban gesagt. Bloß sah sich Rupert nur bedingt
als Kunstliebhaber. In erster Linie war er Inhaber einer Detektei, die
sich auf Recherchen im Kunstmilieu spezialisiert hatte. Natürlich
versuchte er, fachlich einigermaßen auf dem Laufenden zu bleiben, aber
das hieß keineswegs, dass er auch seine Freizeit vorwiegend in Museen
verbrachte. (…)
„Na gut“, sagte Rupert. Dann spielte er halt mit. Er schloss die Augen
und sagte: „Wenn´s der Wahrheitsfindung dient.“
„Dann los!“ Alban führte ihn mit festem Griff voran, über harten,
glatten Boden. Nach etwa zehn Schritten stoppten sie. Rupert hörte in
der Ferne jemanden lachen, er spürte Albans zweite Hand an seinem
anderen Oberarm, und dann wurde er um neunzig Grad nach links gedreht.
Obwohl er sich nur widerwillig Albans seltsamem Wunsch gefügt hatte, war
er nun doch gespannt. Alban schnaufte vernehmlich aus und sagte: „Jetzt.
Schau hin!“
Rupert öffnete die Augen. Zwei Meter vor ihm sprangen Schlaglichtflecken
aus schwarzen Schatten hervor, formten sich zu Gesichtern, Leibern,
Gewändern. Vier Männer steckten ihre Köpfe so zusammen, dass sie eine
Raute bildeten. Dem vordersten waren tiefe Falten in die Stirn
eingegraben. Er beugte sich nach vorn und blickte mit weit aufgerissenen
Augen seiner rechten Hand hinterher. Der ausgestreckte Zeigefinger wies
auf eine Wunde im halb entblößten Oberkörper des links stehenden Manns.
Nein, der Finger tastete nach der Wunde, er stieß so weit in sie hinein,
dass sich die Haut über dem Schnitt aufwölbte.
„Der Ungläubige Thomas“, murmelte Rupert. Der Apostel, der den anderen
Jüngern so lange nicht glauben wollte, dass Jesus auferstanden war, bis
er dessen Wundmale mit eigenen Händen berührt hätte. Dann erschien Jesus
auch ihm und forderte ihn auf, seinen Finger in die Wunde an seiner
Seite zu legen. Du glaubst, weil du siehst, sagte er dem erschütterten
Thomas und fügte hinzu, dass aber diejenigen selig seien, die glaubten,
ohne sich mit eigenen Augen von der Wahrheit überzeugen zu müssen.
„Die Geschichte haben sie uns im Internat bis zum Verrecken eingebläut“,
sagte Alban leise von hinten.
Ja? War das so gewesen? Rupert konnte sich nicht erinnern, doch
wahrscheinlich hatte Alban schon Recht. Wie sonst sollte Rupert die
Details der Geschichte noch so genau im Kopf haben? Eine Messe hatte er
seit Ewigkeiten nicht mehr besucht, und die Bibel gehörte gewiss nicht
zu seinen Standardlektüren. Dennoch glaubte er zu wissen, dass der auf
dem Gemälde dargestellte Moment nicht dem Evangeliumstext entsprach.
Dort war keine Rede davon, dass Thomas tatsächlich in die Lanzenwunde
gegriffen hatte. Schon gar nicht auf eine so drastische Art. Es konnte
einem übel werden, wenn man sich ansah, wie tief er in die Wunde
hineinstocherte. Noch dazu mit solch dreckigen Fingern. Der Schmutzrand
unter dem Nagel des abgespreizten Daumens war fast übertrieben
naturalistisch gemalt. Obwohl er sich abgestoßen fühlte, schaffte Rupert
es nicht, den Blick abzuwenden. Ohne sich umzudrehen, sagte er: „Das ist
…“
„Der Ungläubige Thomas von Caravaggio“, sagte Alban.
Klar, Caravaggio. Wer sonst hätte diese Szene so effektvoll aufladen
können, hätte Grauen und Faszination so perfekt vereint? Caravaggio, der
Provokateur mit dem brutalen Blick fürs ungeschminkte Leben. Der sich
als Modell für seine Madonnen mit Vorliebe römische Huren ausgesucht
hatte. Der sich in Kneipen geprügelt und sogar einen Mord begangen
hatte. Langsam ließ Rupert seinen Blick von der Seitenwunde nach oben
wandern.
Der Kopf Jesu fiel auf die Brust hinab, sein Gesicht lag im Schatten,
die Augen schienen geschlossen. Wenn er mit der rechten Hand nicht das
Grabtuch zurückziehen würde, könnte man fast meinen, dass er immer noch
tot am Kreuz hinge. Doch er war sowieso nur eine Randfigur. Den
Mittelpunkt der Komposition bildete zweifelsohne der Kopf des Thomas. Er
war größer als der von Jesus und schien fast aus dem Gemälde
herauszuspringen. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch die vorragende,
in grelles Licht gesetzte Schulterpartie. Zum unteren Bildrand hin
versanken die Konturen dagegen in Dunkelheit.
„Also?“, fragte Alban. Seine Hände lagen noch immer an Ruperts
Oberarmen, nur krallten sich die Finger jetzt so fest, dass es
schmerzte. Genug war genug. Rupert langte nach oben und löste den Griff
an seinem linken Arm. Alban ließ auch auf der anderen Seite los.
Offensichtlich wusste er nun nicht, wohin mit seinen Händen. Schließlich
faltete er sie über seiner Umhängetasche. Dann lächelte er Rupert
entschuldigend zu, doch das Zittern seiner Mundwinkel verriet, wie
angespannt er war. Was war eigentlich los mit ihm?
„Ein eindrucksvolles Bild“, sagte Rupert, „und ziemlich verstörend.“
„Was ist dir als Erstes aufgefallen?“
„Licht und Schatten. Diese harten Kontraste.“
„Und weiter?“
„Der Thomas. Wie er mit dem Finger in der Wunde wühlt, als wolle er
seinen Herrn und Meister ein zweites Mal durchbohren.“
„Nein“, sagte Alban. Er wandte sich dem Gemälde zu.
„Nein?“
„Das ist nicht das Wesentliche. Der Herr und Meister führt ihm ja die
Hand. Dafür kann der Thomas nichts. Dafür nicht.“ Alban machte einen
Schritt nach vorn und stieß dabei mit dem Unterschenkel an die Kette,
die den geforderten Mindestabstand zu den Bildern markierte. Die Kette
klirrte, Alban wurde laut. „Herr Gott, Rupert, jetzt schau halt hin!“
Rupert beugte sich vor und musterte die drei Hände, die im Vordergrund
des Gemäldes eine leicht geschwungene Linie bildeten. Er hatte gesagt,
was ihm aufgefallen war, er hatte mitgespielt. Was wollte Alban
eigentlich noch? Dass Rupert ihm eine kunsthistorische Vorlesung hielt?
„Siehst du es wirklich nicht?“, rief Alban seltsam erregt.
Worauf auch immer er hinaus wollte, deswegen brauchte er sich nicht so
zu echauffieren. Rupert blickte sich nach dem Museumswächter neben der
Statue um. Der war anscheinend durch Albans Lautstärke aufmerksam
geworden und schlenderte auf sie beide zu.
„Kannst du nicht ein wenig leiser brüllen?“, fragte Rupert.
Alban schien ihn nicht gehört zu haben. „Pass auf, Jesus ist schließlich
sein Meister. Gekreuzigt, gestorben, auferstanden von den Toten und nun
erschienen, um speziell ihm, dem ungläubigen Thomas, diese Auferstehung
zu beweisen. Ist doch eine irre Sache, aber was tut der Idiot?“
„Jetzt krieg dich mal wieder ein. Das ist doch nur ein Gemälde“, sagte
Rupert. Was auch immer Alban umtreiben mochte, es war nicht Ruperts
Problem. Er wollte es nicht wissen. Er hätte sich gar nicht erst zu
diesem Museumsbesuch überreden lassen sollen. Ein andermal gern, hätte
er sagen müssen, aber heute habe er noch einen wichtigen Termin in
München. Er habe sich wirklich gefreut, seinen ehemaligen Zimmergenossen
zu treffen, nur müsse er nun leider sofort …
„Weißt du, was dir als Erstes hätte auffallen müssen?“ Alban wandte sich
ruckartig Rupert zu. Seine Umhängetasche schlug dabei gegen einen der
Ständer, an denen die Absperrkette aufgehängt war. Alban zog die Tasche
nach vorn.
„Was?“, fragte Rupert und lächelte dem Wächter entgegen, der bis auf
wenige Meter herangekommen war.
„Bitte Abstand halten!“, sagte der Wächter.
Rupert nickte. Alban öffnete die Schnallen der Umhängetasche und griff
mit der rechten Hand hinein. Dann stieg er über die Absperrkette.
„He, Sie!“, rief der Wächter. „Kommen Sie sofort zurück!“
Alban wandte sich zu ihm um. Seine Hand fuhr nach vorn, die geballten
Finger umschlossen … Das war doch nicht möglich! Alban hatte plötzlich
ein Messer gezückt. Ein Küchenmesser mit handspannenlanger Klinge. Er
reckte es dem Museumswächter entgegen und brüllte: „Genau, Abstand
halten, sonst …!“
Rupert vermochte den Blick nicht von dem Messer zu lösen. Es hatte eine
schmale, leicht gebogene und spitz zulaufende Klinge. Ein
Tranchiermesser, dachte Rupert und fragte sich im selben Moment, warum
ihm die eigentliche Funktion des Messers bedeutsam erschien. Und wieso
es so glänzte, als habe Alban stundenlang daran herumpoliert. Und warum
zum Teufel er so ein Ding in seiner Tasche herumtrug. Rupert sagte:
„Ganz ruhig, Alban!“
Der Museumswächter schien vor Schreck erstarrt. Auf der Ausweiskarte an
seiner Weste waren das Logo und der Name der Sicherheitsfirma Fridericus
aufgedruckt. Und darunter konnte Rupert den Namen des Manns lesen: S.
Probst. Wofür das S. wohl stand? Simon, Sven, Stefan? Rupert sagte:
„Steck das Messer weg, Alban!“
„Einfach wegstecken, was?“, fragte Alban. Dann drehte er sich um, holte
mit der Rechten aus und trieb das Messer in die Leinwand. Genau in das
weit aufgerissene Auge des Ungläubigen Thomas. Alban zog die Klinge
langsam nach schräg unten, über Thomas` Nase hinweg und an der Hand Jesu
vorbei, die den Unterarm des ungläubigen Jüngers in Richtung der
Seitenwunde führte. Die Leinwand knirschte unter dem Schnitt, ein auf-
und abschwellender Sirenenton legte sich über das Geräusch. Die
Alarmanlage, dachte Rupert und wunderte sich, dass sie so leise war.
Nicht mehr als eine ferne Begleitmusik für einen surrealen Film, in den
er unversehens geraten war. Alban zog das Messer aus dem Gemälde heraus,
stach auf den rechten Jünger ein, riss das Messer aus der Leinwand,
stach erneut zu.
„Alban!“, brüllte Rupert. Er musste etwas tun, musste einschreiten,
musste Alban von hinten umklammern und von dem Bild wegzerren, aber er
vermochte sich nicht zu rühren. Seine Arme, seine Beine waren wie
festgefroren. Er konnte nur staunend zusehen, wie der Museumswächter
wieder zum Leben erwachte. Zwar wagte auch der nicht, sich direkt auf
Alban zu stürzen, doch er griff nach der Standleuchte neben dem Gemälde.
Mit beiden Händen nahm er sie knapp über dem Rundfuß auf und drosch auf
Albans Rücken ein. Schon beim ersten Schlag knickte das Aluminiumrohr
der Leuchte. Alban wehrte sich nicht. Er schüttelte sich, löste die
Finger vom Messergriff und drückte seine Stirn gegen das Bild.
Irgendwo kreischte jemand hysterisch, der Sirenenton schwoll gleichmäßig
an und ab, untermalte Fußgetrappel, Keuchen, halb unterdrückte Rufe.
Rupert stand einfach da und sah zu, wie Alban sich langsam umwandte und
wieder über die Absperrung zurückstieg. Der Wächter ließ das
verkrüppelte Leuchtenrohr sinken. Das Gemälde hing noch an der Wand. In
der Mitte zeigte es eine klaffende Schnittwunde, und im Kopf des im
Hintergrund befindlichen Jüngers steckte das Tranchiermesser. Es hatte
einen dunklen Holzgriff, der mit drei silbern glänzenden Schrauben
fixiert war. |
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