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    Bernhard Jaumann, Banksy und der blinde Fleck    
 
 
         
     
  LESEPROBE:  
     
 

Wann sich die ersten Ratten aus ihrer verborgenen Welt hervorgewagt hatten, war im Nachhinein kaum mehr festzustellen. Bevor sich der Münchner Anzeiger auf die Geschichte stürzte, hatte Klara Ivanovic jedenfalls eine selbst gesehen. Das war Anfang Januar gewesen, vielleicht am dritten oder vierten, als sie vom Büro der Kunstdetektei von Schleewitz zu ihrer Haidhausener Wohnung fuhr. Am Rosenheimer Platz stieg sie aus dem S-Bahn-Schacht, zog den Kragen ihres Wintermantels hoch und verfluchte den Schneeregen, der die Straßenbeleuchtung ungefähr so grau wirken ließ, wie ihre Stimmung war. Im Büro hatten die Kollegen genervt, und nun stand ihr ein voraussehbar anstrengender Abend mit ihrem Vater bevor. Zu allem Überfluss klemmte ihr Schirm. Um ihn zu öffnen, bevor sie völlig durchnässt war, trat sie in den Durchgang zum Innenhof des Deloitte-Bürokomplexes. Da fiel ihr Blick auf die Ratte.

Sie stand keine fünf Meter entfernt auf ihren Hinterbeinen. Ein dunkelgraues Riesenvieh, mehr als einen halben Meter groß, den leicht hochgereckten Schwanz nicht mitgerechnet. Die spitze Schnauze war heller, genau wie die fast grotesk abstehenden Barthaare. Die Ratte hatte den Kopf zur Seite gewandt, so als ob sie hinten im Innenhof ein verdächtiges Geräusch gehört hätte und nun wittern musste, ob wirklich Gefahr drohte. Die Vorderpfoten hatte sie vom Körper weggestreckt. Die linke war so gedreht, dass Klara den Fußballen und die Unterseite der Zehen erkennen konnte. Sie waren blutrot.

Vier fingerartig abgespreizte Zehen. Dass die fünfte Zehe bei Ratten verkümmert und praktisch nicht wahrnehmbar war, hatte Klara erst später nachgelesen. Ihr wäre wohl auch gar nicht aufgefallen, dass es sich nur um vier Zehen handelte, wenn nicht ein blutiger Pfotenabdruck an der Mauer neben der Ratte geprangt hätte. Er zeigte die roten Fingerglieder und darunter die etwas verschmierte Spur des Ballens, aus dem zwei Blutrinnsale nach unten liefen. Als hätte sich die Ratte gegen die Wand gestützt, nachdem sie verstümmelt worden war. Nachdem ihr ein Teil der Pfote von einem Schlageisen abgerissen oder von einem Konkurrenten abgebissen worden war.

Klara ging näher heran, auch wenn sie die Szene ziemlich abstoßend fand. Alles, was Blut darstellen sollte, war mit einem Pinsel auf die Granitplatten der Hausmauer aufgetragen worden. Die Ratte dagegen hatte jemand mit Hilfe einer Schablone aufgesprüht und nachträglich mit einigen Schattierungen akzentuiert, so dass das Fell des Tiers plastisch wirkte. Wie lange es wohl dauerte, bis ein solches Graffito fertiggestellt war? Es schien nicht so, als habe der Sprayer sonderlich hastig gearbeitet, obwohl die Stelle vom belebten Rosenheimer Platz aus einsehbar war. Er musste spätnachts unterwegs gewesen sein. Oder schauten die Passanten geflissentlich weg, wenn sich einer selbstbewusst genug an seine illegale Arbeit machte?

Vielleicht war er auch gar nicht fertig geworden. Man fragte sich als Betrachter doch zum Beispiel, wieso die Ratte eine blutüberströmte Pfote hatte. Wer oder was hatte sie verwundet? Warum wurde das auf so drastische Art an der Mauer dokumentiert? Darauf lieferte das Stencil keine Antwort, nicht einmal andeutungsweise. Und auch der misstrauische Blick des Tiers in die entgegengesetzte Richtung fand keinen Zielpunkt, der irgendwie Sinn machte. Im Hof gab es nur dunkle Bürofenster, nass glänzende Bodenplatten, einen vor sich hin kümmernden, winterlich kahlen Baum, vor dem ein SUV parkte, und ein paar modernistische Beleuchtungssäulen, durch deren Licht der Regen schnürte. Klara rüttelte am Schließmechanismus ihres Schirms, doch das Ding öffnete sich einfach nicht. Dann eben nicht. Sie machte sich auf den Heimweg.

Ein paar Tage später schaute sie noch einmal vorbei, ohne genau zu wissen, warum. Dass das Graffito überstrichen worden war, überraschte sie nicht. Ein global agierendes Finanzberatungsunternehmen wie Deloitte hatte die Finger in so vielen schmutzigen Geschäften, dass wenigstens die Fassade blitzblank erscheinen musste. Wahrscheinlich hatte der Hausmeister zeitnah eine entsprechende Order erhalten. Sehr sauber gearbeitet hatte er allerdings nicht. Die Ratte war zwar unter einem metallgrauen Anstrich verschwunden, doch wenn man wusste, wo man zu suchen hatte, sah man den roten Pfotenabdruck noch leicht durchschimmern. Ähnlich einem Blutfleck, der immer noch in den tiefen Schichten des Gewebes zu erahnen ist, obwohl man ihn mehrfach aus einem Pullover herauszuwaschen versucht hat. Auch wenn Klara das Graffito nicht gerade für ein großes Kunstwerk gehalten hatte, empfand sie eine gewisse Befriedigung, dass es nicht völlig spurlos beseitigt worden war.

Wie sich herausstellen sollte, war die Ratte vom Rosenheimer Platz nicht die einzige in München, und einige davon überlebten lange genug an irgendwelchen Hauswänden, Fabrikmauern und Wartehäuschen, um einem breiteren Kreis von Menschen und auch der Lokalredaktion des Münchner Anzeigers aufzufallen. Ob es am Mangel an relevanten Themen lag oder ob der professionelle Instinkt gebot, gleich mit einer halben Zeitungsseite darauf einzugehen, wusste Klara nicht. Aufhänger war ein Rattengraffito in der Balanstraße, und schlagzeilenträchtig war die Vermutung, die damit verbunden war und schon im Titel des Artikels bündig formuliert wurde: Banksy in München?

 
  (Aus: Banksy und der blinde Fleck)
   
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