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    Bernhard Jaumann, Der lange Schatten    
 
 
         
     
  LESEPROBE:  
     
 

FREIBURG IM BREISGAU

Und was, wenn nicht mehr von dem Mann übrig war als der Name auf seinem Grabstein und der Hass, den er zu Lebzeiten in die Welt gesetzt hatte? Wenn seine Knochen schon längst zerfallen waren? Seit mehr als fünfzig Jahren lag er da in der Erde, in einer fetten Erde, in der man Mais und Gemüse pflanzen könnte. Dünn und unablässig schnürte der Regen auf sie herab. Kaiphas sah nach oben in den dunklen Himmel, eine grundlose Tiefe, auf der das Streulicht der Stadt als schmutziger Schein schwamm. Er schloss die Augen und versuchte die Tropfen zu zählen, die auf seiner Gesichtshaut zerplatzten.

Kaiphas hatte nichts gegen den Regen. Zu Hause in Namibia wäre ein solches Wetter als Segen empfunden worden. Die Weiden würden grün, die Rinder fett, und selbst zwischen den Blechhütten der Townships würde der Staub in der Luft einem Duft nach frischem Leben weichen. Auch hier in Freiburg war der Regen von Vorteil gewesen, als Kaiphas am Vormittag den Friedhof erkundet hatte. Kein Mensch war ihm begegnet, außer einer alten Frau, die ihren Schirm so tief gehalten hatte, dass sie gerade mal ihre eigenen Gummistiefel sehen konnte. Kaiphas war die Gräber systematisch abgegangen, Feld für Feld, Reihe für Reihe. Sorgfältig hatte er die Namen auf den Steinen gelesen, bis er nach etwas mehr als einer Stunde den richtigen gefunden hatte.

Er hatte sich die Lage des Grabs eingeprägt und dann eine Stelle gesucht, an der er später unbeobachtet über die Friedhofsmauer steigen konnte, denn die Deutschen schlossen ihre Toten in der Nacht ein. Vielleicht, weil sie nicht wussten, dass sich die Ahnen durch Mauern und Tore keineswegs abhalten ließen, wenn sie wiederkehren wollten. Aber die Geister der toten Deutschen beunruhigten Kaiphas kaum. Mit ihnen hatte er nichts zu schaffen, und was den einen anging, der hier unter seinen Füßen lag, nun, da hatte er noch in Windhoek vorgesorgt. Er hatte einen Gegenzauber in Auftrag gegeben und sich einen Talisman besorgt. Der würde ihn beschützen.

Die Nacht war herbstlich kühl, der Regen rauschte gleichförmig und verschluckte alle anderen Geräusche. Wenn es überhaupt welche gab um zwei Uhr morgens auf einem gottverlassenen Friedhof. Kaiphas zog Jacke und Hemd aus und verstaute beides in seinem Koffer. Den Lederbeutel mit dem Talisman ließ er um seinen Hals hängen. Dann setzte er den Spaten an. Mit der Schuhsohle trieb er ihn mühelos in die nasse Erde, doch als er anhob, merkte er, wie schwer sie war. Egal. Er war stark, er war ausgeruht und hatte Zeit genug. Er warf den Aushub auf das Grab nebenan.

Kaiphas arbeitete konzentriert, und bald wurde ihm warm. Nach einer Stunde war er schon gut einen Meter tief gekommen. Er richtete den Oberkörper gerade und streckte sich. Der Regen fiel, als wolle er nie aufhören. Kaiphas spürte, wie er schwitzte und wie die Tropfen den Schweiß von seiner Haut spülten. Es war ein gutes Gefühl, eines, das ihm bewies, dass nichts schiefgehen konnte. Er würde seinen Auftrag erledigen und als Held nach Namibia zurückkehren. Dort stünden ihm alle Möglichkeiten offen. Er könnte sich einen Laden kaufen, eine Kneipe oder ein Taxi, er könnte sich eine Frau nehmen und ein paar Söhne zeugen, er könnte sonst was machen. Vielleicht würde er sogar ins Hereroland ziehen und Rinder züchten wie seine Vorfahren. Warum nicht?

Kaiphas legte die Hand auf den Beutel an seiner Brust. Das Leder war nass, der Regen plätscherte, und von irgendwoher schlug ganz schwach eine Kirchturmglocke. Dreimal, glaubte Kaiphas. Er griff nach seinem Koffer, holte die Stirnlampe heraus, schaltete sie aber nicht ein. Noch stand er nicht tief genug, sodass der Lichtpunkt über das Grab hinaus sichtbar wäre. Ein zufälliger Beobachter sähe ein auf und ab, hin und her tanzendes Irrlicht, das hüfthoch über dem Boden schwebte. Wenn Kaiphas Glück hätte, würde man ihn für den Geist eines Toten halten, doch er wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Er brauchte die Lampe noch nicht. Es war äußerst unwahrscheinlich, jetzt schon auf Knochen zu stoßen.

Kaiphas hatte sich informiert. Bis zu zwei Metern schachteten die Deutschen normalerweise aus. So tief, dass das Gewicht der Erde einen Sarg bald einbrechen ließ. Sie wollten kein Bett für die Ewigkeit, sie wollten niemanden bewahren, im Gegenteil: Erde zu Erde, Staub zu Staub. Nach fünfundzwanzig Jahren sollte nichts anderes mehr übrig sein. Nur die Gebeine hielten sich meist nicht an den Zeitplan der Friedhofsverordnungen. Doch ob sie auch nach fünfzig Jahren noch vorhanden waren, hing von der Bodenbeschaffenheit, der Erdverdichtung, dem Sauerstoffgehalt, dem Wassereintritt ab. Unter bestimmten Bedingungen würde man eine Wachsleiche mit Haut und Haaren freilegen, unter anderen wären auch die dicksten Knochen zerfallen. Es gab keine Formel, mit der man berechnen konnte, was fünfzig oder hundert Jahre unter der Erde bewirkten. Wer nicht nachgrub, würde es nie wissen.

Kaiphas richtete sich auf. Er konnte gerade noch über den Rand des Lochs hinwegsehen. Allmählich musste er in der richtigen Tiefe angelangt sein. Er senkte den Kopf und schaltete die Stirnlampe ein. Durch den Lichtkegel strich der Regen. Am Boden war nichts zu entdecken, was nach Knochen aussah.

Nur Erde und die verriet nicht, ob sie mal ein Holzsarg oder ein Menschenherz gewesen war.

Mach mir keine Schwierigkeiten, Mann, dachte Kaiphas. Stell dich nicht so an wegen der paar Knochen! Du bist tot, Mann! Du hast bloß eine Vergangenheit, keine Zukunft mehr. Ich habe eine Zukunft, und die wirst du mir nicht kaputt machen!

Der Regen rauschte, und Kaiphas grub weiter. Je tiefer er vorstieß, desto schwerer fiel es ihm, den Aushub aus dem Grab zu befördern. Wenn er nicht weit genug warf, rutschte die Erde über die Grabumfassung zurück. Kleine Schlammlawinen prasselten auf seine Schultern, begruben seine Stiefel. Kaiphas lachte leise auf. Da war er zehntausend Kilometer von Windhoek nach Frankfurt geflogen, war mit dem Zug nach Freiburg gefahren, hatte das Grab gefunden, hatte sich in die Tiefe gegraben, buddelte immer weiter, ohne etwas zu finden, nur um letztlich selbst verschüttet zu werden? War das nicht komisch?

Er schüttelte den Kopf und machte sich daran, eine weitere Schicht freizulegen. Nein, hier war gar nichts komisch. Erde zu Erde, Staub zu Staub, verdammter Schlamm zu verdammtem Schlamm. War das wirklich alles, was geblieben war? Kaiphas spürte seine Muskeln müde werden. Zum Trotz arbeitete er nun hastiger als zuvor, keuchte bei jedem Spatenstich. Ein Klumpen Wut ballte sich in seinen Eingeweiden zusammen und stieg langsam nach oben. Dieser verfluchte Tote durfte sich nicht einfach so davonstehlen! Das konnte er ihm nicht antun. Kaiphas begann, in der Mitte des Grabs einen Schacht nach unten zu treiben. Dort, wo sich das Becken des Manns befunden haben musste. Er setzte den Spaten an, trat mit einer wilden Kraft zu, schippte die Erde achtlos nach vorn. Ja und ja und noch eine Schippe und nimm das und …

Kaiphas erstarrte in der Bewegung. War er laut geworden, hatte er jeden seiner Tritte mit einem Schrei begleitet? Er stützte sich an der nassen Erdwand ab, hörte sich schwer atmen. Sonst hörte er nichts. Da war nichts. Nur ein Friedhof mit abgesperrtem Tor. Nur Tote ringsum. Nur verwesende Vergangenheit. Und er, Kaiphas, der in einem knapp zwei Meter tiefen Loch stand. Er blickte nach unten.

Und da …

Na also!

Kaiphas sah etwas Fahlweißes im Schein der Stirnlampe aufschimmern. Er ließ sich auf die Knie fallen und wischte mit den bloßen Händen die Erde weg. Ja, das war ein Knochen, ein länglicher, leicht gebogener Knochen, eher eine Rippe als ein Teil vom Becken. Kein Stofffetzen, kein Muskelfleisch und keine Sehne einer Wachsleiche, nur ein schöner blanker Knochen. Alles war, wie es sein sollte. Nur zur Sicherheit krallte er die Faust um den Talisman in seinem Beutel.

«Du machst mir keine Angst, toter Mann», sagte Kaiphas leise. Dann brach er den Knochen über seinem Knie entzwei und warf die Teile in hohem Bogen aus dem Grab hinaus. Am Himmel sah der Mond bleich hinter zerrissenen Wolken hervor. Kaiphas hatte nicht bemerkt, wann es zu regnen aufgehört hatte.

Zweimal hatte Claus Tiedtke entfernte Verwandte in Deutschland besucht, ganze neun Wochen seines bisherigen Lebens hatte er im Land seiner Vorfahren verbracht. Dass seine Muttersprache zufällig Deutsch war, hinderte ihn nicht daran, Namibia als sein Heimatland anzusehen. Dort war er geboren und aufgewachsen, es war genauso sein Land wie das seiner Mitbürger, egal, welche Hautfarbe sie besaßen und in welcher Sprache sie ihre ersten Worte gestammelt hatten. Und doch schien sich die Distanz zwischen ihm und der Delegation vergrößert zu haben, seit sie in Frankfurt gelandet waren. Keine zwei Stunden war das her, sie warteten noch im Transitbereich auf den Anschlussflug nach Berlin.

Sie standen eng beieinander, ein Minister, einige Staatssekretäre und andere hohe Beamte, Kirchen- und Gewerkschaftsleute, Vertreter des Genozid-Komitees und der traditionellen Stammesbehörden, Namas wie Hereros, alles in allem an die siebzig Personen. Keines der Königshäuser, keiner der Chiefs, ob er nun der roten, der weißen oder sonst einer Flagge vorstand, hatte es sich nehmen lassen, an dieser historischen Mission teilzuhaben. Auch ein paar Herero-Frauen waren dabei. Sie trugen ihre bodenlangen Kleider und hatten, noch bevor sie dem Flugzeug entstiegen waren, wieder ihre traditionellen Kopfbedeckungen mit den an Rinderhörner erinnernden Auswüchsen aufgesetzt. Ob sie sich fragten, wie ihr Festtagsstaat hier wirkte?

Claus beobachtete die vorbeiströmenden Fluggäste. Geschäftsleute, Urlaubsheimkehrer, Städtetouristen. Keiner verlangsamte den Schritt, nur selten blieb ein Blick an den HereroFrauen hängen, um gleich darauf weiterzuwandern. Nicht umsonst war Frankfurt der größte Flughafen Deutschlands. Hier hatte man schon alles gesehen, hier interessierte sich niemand für afrikanische Folklore und schon gar nicht dafür, warum sie getragen wurde und was die ganze Delegation nach Deutschland führte und ob vor mehr als hundert Jahren eine kaiserliche Schutztruppe einen Kolonialaufstand blutig niedergeschlagen hatte.

Im Terminal wogte es tausendfach hin und her, auf zig Gates zu, vorbei an Sitzreihen, auf denen zeitweilig gestrandete Passagiere schliefen, vorbei an den chromblitzenden Theken der Restaurationsbetriebe, wo junge Anzugträger in ihre aufgeklappten Laptops starrten. Rollkoffer surrten sanft die Gänge entlang, eine angenehme Lautsprecherstimme warnte, keine Gepäckstücke unbeaufsichtigt zu lassen, und Claus spürte, dass hundert Jahre nicht gleich hundert Jahre waren. In Deutschland war erheblich mehr Zeit vergangen als in Namibia. Zwei Weltkriege lagen zwischen damals und heute, eine kurze Republik, ein Tausendjähriges Reich, ein geteiltes Land und ein wiedervereinigtes neues, das sich mit seinem Geld gerade ganz Europa kaufte. Wer wollte da noch an die ehemaligen Kolonien denken? Wen juckte es, wenn in irgendwelchen Universitätskellern ein paar alte Schädel herumlagen?

In Namibia hatte es gejuckt, es hatte gebrannt und geschmerzt. Der Schmerz hatte die Schatten der Vergangenheit lang und länger werden lassen, er hatte die Zeit zusammengestaucht, fast so, als wären die Schädel erst gestern aus ihren Gräbern geraubt worden. Eine unbekannte Anzahl von Schädeln, die von den Kolonialherren ins Kaiserreich verschifft worden waren, um sie anthropologischen Sammlungen einzuverleiben oder rassenkundliche Forschungen an ihnen anzustellen. Zwanzig von ihnen, die ersten zwanzig, sollten nun in Berlin zurückgegeben werden. Den Hereros waren sie ein Beleg dafür, dass die alten Rechnungen auch nach einem Jahrhundert offenstanden. Ihrer Meinung nach sollten die Deutschen endlich ihre Schuld abtragen, mit Worten, mit Taten und mit Euros. Für viele von Claus’ deutschstämmigen Landsleuten stand dagegen ihr Ursprungsmythos auf dem Spiel. Ihre Vorfahren durften keine unmenschlichen Verbrecher gewesen sein. Deswegen redeten sie sich die Vergangenheit schön und unterstellten den Hereros, bloß unter einem fadenscheinigen Vorwand Kasse machen zu wollen.

Das Thema kochte hoch, die Angelegenheit war brisant genug, dass die Windhoeker «Allgemeine Zeitung» trotz ihrer wahrlich nicht rosigen wirtschaftlichen Lage Claus Tiedtke beauftragt hatte, die Delegation nach Deutschland zu begleiten. Und so saß er jetzt hier, im Frankfurter Flughafen, keine zehn Schritte von seinen namibischen Landsleuten entfernt, und fragte sich, wieso er sich ihnen gegenüber fremd fühlte. Und, ja, auch in gewisser Weise überlegen. Er war kein Rassist, er suchte sich seine Freunde nicht nach der Hautfarbe aus, er hatte sich mehr als jeder andere, den er kannte, für die Lebenswirklichkeit der schwarzen Mehrheit seines Landes interessiert und hatte in einem Anfall von Selbstüberschätzung sogar eine Zeitlang versucht, in der Township Katutura zu leben. Das konnte in zwei Stunden nicht einfach ausgelöscht werden, noch dazu, wenn eigentlich gar nichts geschehen war. Und doch empfand er fast so etwas wie Mitleid mit diesen Hereros und Namas, die sich einbildeten, irgendwen in Europa würde es interessieren, was ihren Vorfahren angetan worden war.

Vom Gate aus wurde zum Boarding für den Flug nach Berlin aufgerufen. Erst die Business-Class und Familien mit kleinen Kindern, dann die Fluggäste der hinteren Sitzreihen. Claus stand auf, steuerte auf die Delegation zu und arbeitete sich bis zu Minister Kazenambo Kazenambo durch.

«Claus Tiedtke, Allgemeine Zeitung», stellte er sich vor. «Wenn ich irgendwie helfen kann, Herr Minister … Ich spreche fließend Deutsch.»

Die Mitarbeiterin der Lufthansa begann, ihre Durchsage auf Englisch zu wiederholen. Der Minister lächelte, und Claus sagte: «Falls es mal nötig sein sollte.»

«Englisch wird in der deutschen Regierung ja wohl jemand beherrschen.» Das kam von Kuaima Riruako, dem Paramount Chief der Hereros. Er hatte sich Claus zugewandt und musterte ihn von oben bis unten. «Allgemeine Zeitung?»

Claus nickte. Als es beim Hererotag in Okahandja den Zwist um das heilige Feuer gab, hatte er Riruako mal interviewt, aber offensichtlich erinnerte der sich nicht an ihn.

«Wir haben Leute, die Deutsch sprechen. Gut genug, um zu verstehen, was in Ihrem Blatt geschrieben wird», sagte Riruako.

Dem Unterton nach zu schließen würde da noch Unfreundliches folgen. Claus wartete ab.

«Zum Beispiel, dass ein Abgesandter ausreichen würde, um die Schädel unserer Märtyrer nach Hause zu holen. Oder dass man sie aus Kostengründen gleich in eine Kiste werfen und per Seefracht schicken sollte.»

«Das entspricht keineswegs der Meinung unserer Redaktion», sagte Claus, «das stand in einem Leserbrief.»

«Und wer wählt aus, welche Leserbriefe gedruckt werden?», zischte Riruako. «Ist das vielleicht nicht Ihre Redaktion? Und rein zufällig wählt sie genau die Leserbriefe aus, in denen der Genozid an meinem Volk rundweg geleugnet wird.»

Ein Zufall war das nicht. Es lag schlicht daran, dass kaum andere Meinungsäußerungen eintrudelten. Claus hatte sich immer dafür eingesetzt, den schlimmsten Kolonialismusverherrlichern keine Bühne zu bieten. Wirklich überzeugt hatte er seine Kollegen nie, und wenn die Leserbriefseite halb leer zu bleiben drohte, kam doch wieder der unsäglichste Quark ins Blatt. Übrigens zu einem nicht geringen Teil aus Deutschland. Meist von verbitterten alten Männern, vermutete Claus, die noch überall den Kommunismus lauern sahen und denen in der deutschen Öffentlichkeit niemand mehr zuhören wollte.

«Nicht zu vergessen natürlich die Dankbarkeitsforderer. Die uns vorrechnen, wie viel Entwicklungshilfe Deutschland an Namibia zahlt, und die erwarten, dass wir dafür schweigend auf die Knie fallen», sagte Riruako.

«Meinungsfreiheit», sagte Claus, «beinhaltet, dass man auch Meinungen gelten lässt, die man nicht teilt. Aber sollten wir nicht langsam …»

Der Minister reihte sich gerade in die Schlange am Gate ein, und der Rest der Gruppe folgte ihm. Riruakos Hand legte sich schwer auf Claus’ Schulter, sein Mund näherte sich deutlich über die Distanz hinaus, die ein Deutschstämmiger zwischen Fremden als angemessen empfand. Als ob er Claus ein Geheimnis verraten wollte, flüsterte Riruako: «Ihr habt uns damals abgeschlachtet, weil ihr die Kanonen und Gewehre hattet. Fügsame Opfer waren wir aber nicht. Wir haben für unser Recht und unser Land gekämpft. Und heute werden wir wieder kämpfen. Mit dem Unterschied, dass wir nun auch Kanonen und Gewehre haben. Diesmal wird es umgekehrt ausgehen.»

«Darf ich das so zitieren, Chief ?», fragte Claus kühl. Riruakos fast schwarze Augen starrten ihn an. Im Weiß neben der linken Pupille war ein Äderchen geplatzt. Ein kleiner blutroter Fleck hatte sich im Augenwinkel gebildet. Schwarzweiß-rot, wie die Flagge des Kaiserreichs, dachte Claus, und da verzog sich Riruakos Mund zu einem Grinsen. Seine Hand löste sich, klopfte Claus zweimal sacht auf die Schulter und wies dann Richtung Gate.

«Auf nach Berlin!», sagte Riruako und lachte.

Als Kaiphas’ Handy klingelte, blickte er kurz seitwärts zu seiner Sitznachbarin. Die hatte eine aufgeschlagene Illustrierte auf dem Schoß liegen, sah aber aus dem Zugfenster. Außen auf der Scheibe zog der Regen schräge Striche, dahinter flog ein graues Haus mit Ziegeldach vorbei. Dann folgten Wiesen in einem so satten, fast unwirklichen Grün, dass es in den Augen schmerzte.

«Ja?», sagte Kaiphas ins Handy. Keine Namen, hatte die Anweisung gelautet.

«Wo bist du?»

«Unterwegs.» Keine identifizierbaren Orte, keine von Außenstehenden nachvollziehbaren Berichte, nichts, was irgendwie verräterisch sein könnte.

Die Frau neben Kaiphas schlug die Augen nieder und blätterte um. Die Zeitschrift zeigte Hochglanzfotos von der Einrichtung eines Hauses. Eine Treppe aus Eisenrosten, unter der eine Kommode mit Blumenvase stand. Ein Badezimmer mit zwei freistehenden Waschbecken. Und so viel Platz dazwischen, dass man eine Großfamilie aus Katutura dort unterbringen könnte.

«Was ist mit deinem Gepäck?», fragte die Stimme aus dem Handy.

«Vollzählig.» Der Koffer lag auf der Ablage in der Mitte des Großraumabteils. Kaiphas hätte ihn lieber neben sich gehabt, doch andere Fahrgäste hatten protestiert. Immerhin hatte Kaiphas ihn im Blick.

«Also ist alles glattgegangen?»

Ob alles glattgegangen war? Kaiphas hatte sich eine Nacht um die Ohren geschlagen, er hatte einen Toten ausgegraben und dessen Knochen durch die Gegend geworfen. Der Talisman hatte ihn beschützt, sodass er den Friedhof unbemerkt verlassen hatte. Er war so rechtzeitig am Bahnhof gewesen, dass er die schmutzige Kleidung wechseln konnte. Nur seine Schuhe waren immer noch feucht und verschlammt. Kaiphas sagte: «Es hat geregnet.»

Wenn er ankam, würde er die Wäsche waschen, seine Schuhe putzen, sich selbst unter eine warme Dusche stellen und ein paar Stunden schlafen. Dann würde er den Auftrag zu Ende bringen, nach Namibia zurückfliegen und ein angesehener Mann sein. Er blickte aus dem Zugfenster und sagte ins Handy: «Es regnet schon wieder, und das Gras ist so grün, dass es in den Augen schmerzt.»

«Auf der Haifischinsel vor Lüderitz wächst kein Gras», sagte die Stimme aus dem Telefon. «Da gibt es nur graue Felsen und ein wenig Sand und den kalten Sturm aus Südwesten, der fast das ganze Jahr über weht. Dort hatten die Deutschen ein Konzentrationslager für ihre Gefangenen eingerichtet. Für die Reste des Herero-Volks. Achtzig Prozent der Inhaftierten haben die Insel nicht mehr lebend verlassen. Sie starben an Hunger, Skorbut, an anderen Krankheiten und Peitschenhieben mit der Sjambok. Und was taten die Überlebenden mit den Leichen, da es nur Stein und keinen Friedhof mit schönem grünem Gras gab? Sie haben sie bei Ebbe am Strand verscharrt. Die Flut hat sie dann wieder freigelegt und ins Meer hinausgespült, zum Festmahl für die Haie.»

Kaiphas blickte auf die Hand seiner Sitznachbarin, die lustlos durch das Magazin blätterte. Der goldene Ehering um den vierten Finger schnitt tief ein. Die Haut war zwar heller als seine, doch wirklich weiß war sie nicht. Eher rot. Kaiphas sagte: «Ich meine ja nur, dass der verdammte Regen hier anscheinend nie aufhört.»

«Ich melde mich wieder», sagte die Stimme. Dann war die Verbindung unterbrochen.

Kaiphas lehnte den Kopf zurück. Sein Koffer war genau da, wo er ihn abgelegt hatte. Kaiphas ließ seine Augen zufallen, zählte bis fünf und riss sie wieder auf. Schlafen konnte er später. Nicht auszudenken, wenn einer den Koffer klaute!

 
  (Aus: Der lange Schatten)
   
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