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Bernhard Jaumann, Sehschlachten
 
 
 
         
     
  LESEPROBE:  
     
  O`Neill stieg die McElhone Stairs zur Höhe von Potts Point hinauf. O`Neill war wieder da. Er verfolgte einen Nackten, der Rollschuhe in der Hand trug. Er benutzte einen fremden Körper, aber er war er, O`Neill, Police Detective O`Neill, er war nicht tot, er war nicht verrückt, und er konnte den Nackten genau erkennen, der am oberen Ende der Treppe angekommen war und unschlüssig nach links und rechts schaute, als ob er nicht wüßte, welche Richtung er einschlagen sollte. Links ging es zur Spitze von Potts Point hinaus, zu Garden Island, wo die Navy ihre Docks betrieb. Nach rechts führte die Victoria Street an den Backpackerhotels und Budget Accomodations vorbei, in denen die ausgeflipptesten der Traveller aus aller Welt Tag für Tag herumsaßen, Dope rauchten und Tips austauschten, welche Backpackers in Cairns oder Perth am abgefucktesten seien. Dann kam Kings Cross, der Rotlichtbezirk, wo die Huren im Tagesdienst wohl gerade das Mittagspausenzwischenhoch der Geschäftsleute abgefertigt hatten und nun gelangweilt auf Matrosen auf Freigang und auf die ersten Busladungen von Touristen warteten, während die Transvestiten vom "Les Girls" langsam zum Frühstück in den Cafes eintrudelten.

Der Nackte stand oben und ließ seinen Hintern die Treppe herabscheinen wie einen geschminkten Vollmond. Die Beine unter O`Neill stiegen die Stufen langsam empor, aber ohne Pause, unerbittlich, eine Maschine, ein Motor, der, einmal angeworfen, immer die gleiche Drehzahl beibehält. Tapfer stiegen die Beine die Stufen hinauf, noch 10, 9, und O`Neill keuchte.


Noch 8, 7, und der Nackte drehte seinen Hintern nach rechts, sah aus den Augenwinkeln O`Neill kommen.


Noch 6, 5, der Nackte stutzte, schaute genau, erkannte O`Neill trotz des fremden Körpers.


noch 4 Stufen.

"Ojoi", sagte der Nackte und begann zu laufen.

3, 2.

"Nein", japste O`Neill, doch auch die Beine unter ihm begannen zu laufen, als ob sie angesteckt wären. Als ob sie keine Wahl hätten. O`Neill versuchte, sich über den Beinen zu halten. Er konnte sie jetzt nicht im Stich lassen. Schließlich hatte er ihnen befohlen, sich in Bewegung zu setzen. Jetzt liefen sie, jetzt konnte er nicht gut aussteigen. O`Neill stieg nicht aus. Er lief mit. Er lief an den kleinen Vorgärten der Terraced Houses entlang, Richtung Potts Point, er bemühte sich, mit den Beinen unter ihm Schritt zu halten, er lief dem Nackten hinterher, der die Rollschuhe in der linken Hand schwang, der barfuß auf dem Gehweg entlangstürmte, der immer deutlicher außer Reichweite gelangte, der dort, wo sich die Victoria Street verengte, schon fünf Meter Vorsprung hatte, der schon viel weiter war, als O`Neill zwischen den Pfosten durchlief, die die Straße für den Durchgangsverkehr sperrten, als O`Neills fremde Beine ihn an dem langen Zaun vorbeizutragen begannen, zwischen dessen Stäben das Wasser der Wooloomooloo Bay von unten hochschimmerte, grünes Wasser zwischen grün gestrichenen Stäben, und dahinter die Rasenflächen und Baumgruppen des Botanischen Gartens, alles grün, grün, grün, grün, selbst der graue Bogen der Harbour Bridge und die Hochhäuser von North Sydney dahinter hatten einen Stich ins Grüne, und zehn Meter vor O`Neill lief ein rot-weißer Nackter, den er nie einholen würde, mochten die Beine unter ihm machen, was sie wollten. Mochten sie noch eine Ewigkeit weiterlaufen und seine Kraft verbrauchen, das letzte bißchen Kraft, das ihm verblieben war und das er dringend zum Keuchen brauchte, es würde nichts nützen, er würde den Nackten nicht einholen.

Nur ein Wunder konnte O`Neill helfen, ein Blitz vom Himmel, ein gnädiger Gott, der sich auf seine Seite stellte. Ein Gott, der sich dem Nackten in den Weg stellte, der ihn bremste, auflaufen ließ, stoppte, ein guter Gott, ein göttlich guter Gott mit einem weiten Herzen, in dem Platz für den kleinen Polizisten O`Neill war, der über einem fremden Körper an einem grünen Zaun entlangschnaufte.

Hilf, lieber Polizistengott! dachte O`Neill und stieß die Luft aus, die ihn zu ersticken drohte.

Hilf jetzt, dachte O`Neill, denn sonst ist es zu spät.

So dachte O`Neill, während der Nackte an der von Efeu überwachsenen Gartenmauer des letzten Hauses in der Victoria Street entlang stürmte und gleich um die Ecke in der Grantham Street verschwinden würde.

"Hilf!" keuchte O`Neill, während die Beine liefen.

Und der Gott half. Ein Gott half. Ein unsichtbarer, mächtiger Gott, ein Gott mit Tarnkappe, mit Zauberhelm, ein Gott, der tief unten wohnte, der es nicht nötig hatte, selbst zu erscheinen. Der warten konnte, bis man bei ihm war. Ein guter Gott, der nur einmal kurz aus der Erde heraus hustete und das Haus an der Ecke aufblähte wie einen Luftballon. Der es rund und prall werden ließ und es hochblies, bis es zuviel war. Bis der rosafarbene Verputz platzte, bis die Betonsäulen unter dem gedeckten Balkon knickten, bis Stuhllehnen und Tischbeine durch die Fliegengitter schossen, Fensterflügel in die Luft flatterten, Ziegelkaskaden in die Höhe schwirrten. Die Druckwelle kam endlich frei und legte die Gartenmauer nach außen flach. Die Gartenmauer, die von Efeu überwuchert war wie eine in längst vergangenen Zeiten geschleifte Burg. Und während sich vorn rötlicher Staub in Wolken ballte und die Mauerreste ihre Teile prasselnd der Erde zurückschickten, schwankte die Seitenwand unschlüssig, kippte ganz langsam nach außen, knickte diagonal und krachte donnernd zu Boden. Der Stucksims unter dem Dach bröckelte vorsichtig mit, und das Dach senkte sich durch die Staubwolken, zischte nach unten, schlug zu wie ein Sargdeckel und schickte neue Wolken und seltsam verkrümmte Blechstücke nach oben.

Mein Gott! dachte O`Neill, ein Erdbeben, ein Vulkanausbruch!

Eine Explosion, eine Sprengung, dachte O`Neill, während seine Beine immer noch weiterliefen, auf die Staubwolke zu, die ein Gott an die Stelle eines Hauses gehustet hatte. Sie liefen den Ziegeln, Scherben und Blechgeschoßen entgegen, allen möglichen Gegenständen, die aus der Luft auf O`Neill einhagelten, die er nicht identifizieren konnte, die einfach nur um ihn herum, auf ihn ein prasselten. Gegenstände, die er nicht kannte, nicht kennen wollte, die es gar nicht gab. Gegenstände, die hier nichts verloren hatten, die auf keinen Fall durch die Luft segeln sollten. Wie zum Beispiel ein Rollschuh.

Herr Gott, was ist das für eine Welt, in der ein schwarzer Stiefel mit vier phosphorgrünen Rollen auf einen zuschießt! dachte O`Neill. In der man von einem Rollschuh erschlagen werden konnte. O`Neill warf sich nach vorn, der Rollschuh zischte über ihn hinweg, und O`Neill lag bäuchlings auf dem Asphalt.

Was für eine Welt! dachte er noch, bevor sich ein Schatten über ihn legte, der viel zu groß war, um von einem Rollschuh stammen zu können. Näher kam der Schatten, stärker wurde er, es war der für O`Neill bestimmte Schatten, und O`Neill lag da und versuchte gar nicht, fortzukrabbeln. Es war sein Schatten, es war das für ihn bestimmte Stück Welt, das gleich über ihn einbrechen, ihn begraben würde.

Dann stürzte die Welt über O`Neill ein.
 
  (Aus: SEHSCHLACHTEN, S. 47-50)  
   
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