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Bernhard Jaumann, Saltimbocca
 
 
 
 
 
         
     
  LESEPROBE:  
     
 

Ich hatte etwa die Hälfte meiner Maccheroni verspeist, als Pallotta aus der Tür des Nebengebäudes trat und mit seiner Baßstimme um Ruhe bat. In der Hand hielt er einen Zettel. Er schien etwas ansagen zu wollen.

"Signori e signore. Wir haben soeben eine anonyme Nachricht erhalten. Jemand behauptet, eines unserer Gerichte vergiftet zu haben. Die Polizei ist verständigt." Er machte eine kleine Pause. Plötzlich war es totenstill. Selbst die kickenden Jungs hatten ihr Spiel unterbrochen. Nur die Kanarienvögel in den Käfigen begannen vor Schreck zu zwitschern. Oder sie hatten die ganze Zeit gezwitschert und waren nur im allgemeinen Lärm nicht zu hören gewesen. Pallotta fuhr fort: "Wir hoffen, daß es sich nur um einen geschmacklosen Scherz handelt. Sie werden jedoch verstehen, daß wir keine Verantwortung übernehmen können. Mit Gift ist nicht zu spaßen. Wir empfehlen Ihnen deshalb dringend, nicht weiterzuessen. Natürlich geht alles auf Kosten des Hauses. Wir bedauern diesen Vorfall sehr und hoffen, daß die dafür Verantwortlichen schnellstmöglich zur Rechenschaft gezogen werden."

Gift im Essen? Hier? In der Trattoria Pallotta, die seit 1820 die Nachbarschaft versorgte? In einer Vorstadtwirtschaft, die seit sechs Generationen in Familienbesitz war? In der jeder jeden kannte? An den Tischen begann es leise zu murmeln, zu murren, die Stimmen wurden lauter, empörter, doch niemand nahm einen Bissen zu sich. Ich auch nicht. Sich durchfüttern lassen, war schön und recht, aber einen möglichen Giftanschlag wollte ich dafür nicht riskieren.

"Da will uns einer verarschen", sagte Boccioni. Er starrte auf die Muscheln, die er zu zwei Dritteln gegessen hatte.

"Mir ist schlecht", sagte eine der Damen. Die mit den lila Fingernägeln. Sie schob den gemischten Salat von sich.

"Um Gottes Willen, Patrizia!" rief die andere.

"Oh, mein Gott", stöhnte Patrizia. Sie lehnte sich zurück und fächelte sich Luft zu.

"Quatsch!" sagte Boccioni. Er nahm die Sonnenbrille ab. Er hatte blaue Augen wie Celentano.

Ein paar Gäste machten sich davon, doch die Mehrzahl blieb wie gelähmt sitzen. Als habe niemand recht verstanden, was Pallotta gerade gesagt hatte. Oder als könne man es einfach nicht glauben. Das Gemurmel an den Tischen wurde unmerklich lauter. Da stand am hinteren Ende des Hofs Falce auf. Sie streckte die Hände aus, um Ruhe zu gebieten und begann mit ihrer rauhen Stimme zu sprechen:
"Freunde, Genossen, Pontemolesi! Ich bin nur eine einfache Arbeiterfrau. Ich habe nicht studiert. Wie man eine Rede hält, weiß ich nicht, und was jetzt zu tun ist, kann ich euch erst recht nicht sagen. Ein Gericht könnte vergiftet worden sein. Deine Muscheln, Boccioni, oder dein Abbacchio dort, Milena. Natürlich muß Pallotta an das Wohlergehen seiner Gäste denken. Jetzt weiterzuessen wäre gegen jede Vernunft, denn - das ist schon richtig - mit dem Tod ist nicht zu spaßen.

Euch brauche ich das nicht zu sagen. Es ist schließlich nicht die erste gefährliche Situation, die ihr überstehen müßt. Erinnert ihr euch, als die Neofaschisten vom Foro Italico herübermarschiert sind? Wie ihr das Tor verrammelt habt, du, Marta, und Beppe und Mimmo und auch der Professore? Und dann haben wir die rote Fahne gehißt und den Rücken zur Straße gedreht. Und während die Schlägertrupps draußen vor Wut brüllten, haben wir in Ruhe unsere Rigatoni con cacio e pepe gegessen. Doch das ist vorbei, und mit Gift ist nicht zu spaßen.

Ich weiß nicht, wieso ich jetzt an die große Tiberüberschwemmung denken muß. Vierundzwanzig Stunden lang haben wir Sandsäcke geschleppt, Dämme und Mauern verstärkt, doch alles hat nichts genützt, der Fluß kam bist fast zur Kirche herauf. Dann bist du, Carletto, mit dem Boot hierher zu Pallotta gepaddelt, hast schon vor dem Tor nach deinen Nudeln geschrien, und wenn ich mich recht erinnere, haben wir alle die Füße hochgelegt und uns unsere Rigatoni con cacio e pepe schmecken lassen. Doch das Jahrhunderthochwasser ist fast vergessen, der Tiber plätschert längst wieder in seinem Bett, und die Gefahr, in der wir jetzt schweben, ist von ganz anderem Kaliber. Denn mit Giftdrohungen ist nicht zu spaßen.

Warum sollten wir nicht einfach unsere Rigatoni con cacio e pepe stehen lassen? Warum sollten wir nicht einfach nach Hause gehen? Es steht ja nichts auf dem Spiel. Nichts, was sich zu verteidigen lohnte. Das ist nicht vergleichbar mit damals, als die Deutschen mit ihren 8,8-Geschützen am Ponte lagerten und die >Wacht am Rhein< sangen. Freilich, damals haben wir unsere Rigatoni con cacio e pepe gegessen und nach jeder Gabel ein paar Takte von >Bandiera rossa< gesummt. Doch da stand uns nur Hitlers Armee gegenüber, die den ganzen Kontinent überrannt hatte, und nicht ein simpler Verrückter, der uns seinen Willen aufzuzwingen sucht. Der uns den Appetit verderben will. Warum sollten wir uns dagegen zur Wehr setzen? Denn, vergeßt nicht, mit anonymen Drohungen ist nicht zu spaßen.

Hätten sich unsere Mütter und Väter anders verhalten? Sind sie schweigend nach Hause gegangen, als Mussolinis Horden 1922 einmarschierten? Oder saßen sie hier im Pallotta und konnten den faschistischen Gruß nicht leisten, weil sich ihre Fäuste zu fest um die Gabeln krallten? Weil sie ein paar Rigatoni aufspießten, als wären es Faschisten? Was war mit ihren Vorvätern, als sich Garibaldianer und Franzosen über den Tiber hinweg beschossen? Und mit deren Vorvätern, als die Landsknechte Karls V. über die Brücke zogen, um Rom zu plündern? Und mit deren Ahnen, als die Staufer und Normannen und die adligen Herren und die Goten und Vandalen und immer wieder die Truppen der Pfaffen kamen, um uns das Leben schwer zu machen? Was auch immer an Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung über die Pontemolesi hereinbrach, sie haben sich nicht kleinkriegen lassen, sie haben die Zähne über ihren Rigatoni con cacio e pepe zusammengebissen! Aber das ist Vergangenheit, das ist Geschichte. Die Teller, von denen unsere Ahnen ihre Nudeln gegessen haben, sind längst zerschlagen, das Blut unserer Vorväter ist vertrocknet, ihre Gebeine zerfallen. Warum sollte noch etwas von ihrem Geist überdauert haben? Und deshalb, Freunde, Genossen, Römer, verstehe ich jeden, der jetzt lieber nach Hause geht, denn ... mit einem solchen anonymen Zettelchen ist nicht zu spaßen.

Ich bin nur eine einfache alte Frau, ich habe nie studiert, Vernunft ist meine Stärke nicht. Ich kann euch nicht raten, was ihr tun sollt. Ich weiß nur, daß ich mich weiterhin Römerin nennen will, daß meine Kinder und Kindeskinder nicht verächtlich auf mich herabsehen sollen, und deshalb werde ich ..."

Falce nahm die Platte mit den Nudeln auf, griff mit der rechten Hand hinein, stopfte sich den Mund voll, kaute, schluckte, sagte: "... und deshalb werde ich dem Kerl zeigen, mit wem er es zu tun hat. Ich esse meine Rigatoni con cacio e pepe, wie wir sie immer gegessen haben! Denn damit ist wirklich nicht zu spaßen."

Sie setzte sich. Alles war still.

Dann begann jemand, "Bandiera rossa" zu singen. Ein zweiter fiel ein, ein dritter, alle sangen andächtig mit.

"... alla riscossa, bandiera rossa trionferà."

Ich kannte den Text, doch natürlich konnte ich nicht mitsingen. Das war ihre große Minute. Da hatte ein deutscher Scrittore, dessen Vorväter mit der 8,8 am Ponte Milvio gelegen hatten, sich herauszuhalten. Aber ich war trotzdem gerührt, fand endlich bestätigt, daß die Italiener bei all ihrem Handy-Enthusiasmus und Internet-Getue es doch ab und zu schafften, zu sich selbst zurückzukehren, zu dieser unwiderstehlichen Mischung aus Arroganz, pathetischem Idealismus und sympathischer Schlitzohrigkeit, die auch aus Todesgefahr noch Lebenslust zu gewinnen vermag.

 
  (Aus: SALTIMBOCCA, S. 76-79)  
   
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