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Bernhard Jaumann, Die Drachen von Montesecco
 
 
 
         
     
  LESEPROBE:  
     
 

Zweiundachtzig Jahre hatte Benito Sgreccia hinter sich gebracht, dann lebte er drei Tage und Nächte, und am vierten Tag starb er. Am Sonntag um 14.10 Uhr wurde er zum letzten Mal lebend gesehen, als er den befrackten Kellner mit einer Handbewegung zurückwies und abrupt vom Tisch aufstand. Nach einem mühsam unterdrückten Hustenanfall sagte er zu Wilma, Laura und Piroschka, sie sollten den Hummer allein essen, ihm sei von den Austern und den Mazzancolle sowieso schon übel, er wolle lieber ein wenig frische Luft schnappen.

Dann stieg der Alte die Treppe hinauf und trat auf die Dachterrasse des Pfarrhauses hinaus. Große blaue Fahnen knatterten im steifen Herbstwind. Der Maestrale brachte trockene kalte Luft aus Nordwesten, doch die Temperaturen schienen Sgreccia nichts auszumachen. Er zog den Liegestuhl aus dem Windschatten des Kirchendachs an die Brüstung der Terrasse vor und ließ sich ächzend nieder.

Unter ihm lag Montesecco. Die Häuser des kleinen Dorfs duckten sich unter dem Wind, die Dächer krallten sich ineinander, als hätten sie beschlossen, den Rest der Welt für immer auszusperren oder – wenn es denn sein müßte – gemeinsam wegzufliegen und den leergefegten stahlblauen Himmel über jedem Wohnzimmer gleichermaßen aufzuspannen. Am Ortsausgang kämpfte ein Papierdrachen gegen den Wind an. Die bunten Dreiecke an seinem Schwanz standen in einer fast waagrechten Linie hintereinander. Die Leine war genauso wenig zu sehen, wie derjenige, der sie führte.

Die Piazzetta direkt unter Sgreccia und der Weg, der zum Haus von Costanza Marcantoni anstieg, waren menschenleer. Die anderen Gassen verschwanden im Gewirr der Mauern und Ziegelschrägen. Man hätte meinen können, es gäbe gar keine Wege zwischen den Häusern oder nur unterirdische wie in einem Maulwurfsbau. Doch natürlich wußte Sgreccia, wo sich die Gassen in die Dächerlandschaft schnitten, genau wie er wußte, wer in welches Haus gehörte und wer vor einem halben Jahrhundert dorthin gehört hatte. Zweiundachtzig Jahre waren eine lange Zeit.

Nicht, daß sich nichts verändert hätte! So waren auch auf die Häuser von Montesecco Satellitenschüsseln gepflanzt worden, bei Ivan, bei Milena Angiolini, bei dem Deutschen, der Paolo Garzones Haus gekauft hatte, und nicht zuletzt bei Benito Sgreccia selbst. Die Schüsseln klebten an den Dächern wie seltsame weiße Ohren, die alle in dieselbe Richtung lauschten. Nach Südwesten. Als sei genau dies die Himmelsrichtung, in der sich das wirkliche Leben abspielte, das der Stars und Katastrophen, der Champions League, der Börsenkurse und der Politskandale. Das Leben, in dem Berlusconi Wahlen gewann, die gute alte Lira durch den Euro ersetzt wurde und sich auch sonst dauernd irgend etwas Wichtiges ereignete. Etwas Buntes, Zähes, Beharrliches. Es kroch hinein unter die ausgebleichten Dächer von Montesecco und flüsterte unaufhörlich, daß jeder seines Glückes Schmied wäre.

Benito Sgreccia hustete. Er war in Montesecco geboren, dort drüben in dem grauen Haus am Dorfrand. Bis die Hebamme aus Pergola eingetroffen war, war er schon abgenabelt gewesen. Er wußte nicht, wieso er es so eilig gehabt hatte, auf die Welt zu kommen. Er war dann aufgewachsen wie alle anderen und hatte sich genauso wenig wie sie gefragt, ob das Leben einen anderen Sinn hatte, als es zu erhalten. Er hatte geheiratet und einen Sohn in die Welt gesetzt. Auch eine Tochter hätte er gern gehabt, doch das sollte nicht sein. Den Krieg hatte er glücklich überstanden, sich dafür nachher in den Schwefelminen von Cabernardi die Lunge ruiniert. Später hatte er viel Zeit gehabt, war mit Gianmaria Curzio herumgesessen, hatte Grappa getrunken und sich dieses und jenes durch den Kopf gehen lassen.

Er hatte keinen Grund zu klagen. Er hatte keinen Grund, sentimental zu werden. Er spürte den kalten Wind, der jetzt in Böen von den Bergen herabfuhr. Er fragte sich, ob Sterben leicht war.

Die Böen rüttelten an den Fensterläden von Montesecco, doch es war klar, daß sie nicht ernst machten. Sie klopften nur kurz an, ohne wirklich interessiert zu sein, ob jemand zu Hause war, und dann stürzten sie sich über das Mäuerchen am Ostrand des Dorfs hinab zum Friedhof, beugten die Spitzen der Zypressen und rauschten durch den Wald am gegenüberliegenden Hügel wieder hoch. Die Blätter der Bäume waren noch grün, nur vereinzelt blinkten gelbe Flecken heraus, fast wie Gischt auf bewegtem Meer. Ja, fast wie das Meer! Die Windböen ließen Wellen durch die Baumkronen laufen, denen Sgreccia mit den Augen folgte, bis sie oben über den Hügelkamm schwappten. Die Zweige schwangen zurück und hatten noch nicht ausgependelt, als sie die nächste Welle faßte.

Vielleicht ist es das, was bleibt, dachte Sgreccia. Das Spiel der Elemente. Daß der Wind den Wald in Meer verwandelte.

Sgreccia hustete. Ihm wurde nun doch kalt. Er spürte, wie sich trotz seiner Anzugjacke die Härchen an seinen Unterarmen aufstellten. Er hörte den Wind pfeifen und versuchte, das Geräusch nachzuahmen. Ihm schien, daß der Wind lauter wurde. Vielleicht lachte er ihn auch aus.

"Lach nicht!" sagte Benito Sgreccia leise. Er verschränkte die Arme vor der Brust, doch er wußte, daß ihm nicht mehr warm werden würde. Dann hauchte er sein Leben aus, und der Wind trug es aus dem Dorf, in dem Sgreccia geboren worden war, über den Friedhof hinweg und schwemmte es den gegenüberliegenden Hügel hinauf, wo es hinter dem Kamm verschwand.

 
  (Aus: DIE DRACHEN VON MONTESECCO, S. 7-11)
   
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